Fühlen und Spüren: Der feine Unterschied und seine Bedeutung im Tantra

Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass „fühlen” und „“spüren” nicht dasselbe sind. Früher habe ich die Wörter einfach synonym verwendet. Das war auch deshalb besonders schwierig, weil meine Muttersprache, das Niederländische, nur ein Wort für beide Bedeutungen kennt: „voelen”.

Gleichzeitig fiel mir auf, dass auch viele Deutschsprachige die Begriffe synonym verwenden. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass in der Unterscheidung zwischen „fühlen” und „spüren” ein Schlüssel verborgen liegt.

Seitdem begleitet mich dieser Unterschied durch meinen Alltag. Und genau dorthin möchte ich dich heute mitnehmen – zu meiner persönlichen Entdeckung von zwei Paar Schuhen, die beide wichtig sind, aber nicht auf denselben Weg passen.

Fühlen – die Sprache der Emotionen

Fühlen bedeutet, Zugang zur inneren emotionalen Welt zu haben. Es geht um Freude, Trauer, Wut, Sehnsucht oder Angst – Empfindungen, die wir als Teil unseres psychischen Erlebens benennen. Gefühle entstehen, wenn wir Erlebnissen, körperlichen Zuständen oder Gedanken eine Bedeutung geben. Sie sind also keine reinen Sinnesdaten, sondern immer schon interpretiert.

Im tantrischen Verständnis sind Gefühle Energie in Bewegung. Sie sind Ausdruck unseres Lebens, Hinweise auf unsere innere Wahrheit und ein Spiegel unserer Beziehung zur Welt. Anstatt Gefühle zu verdrängen oder zu verurteilen, gilt es, sie bewusst wahrzunehmen und zu ehren. So werden sie zu Wegweisern, die uns tiefer mit uns selbst verbinden.

Spüren – die Sprache der Sinne

Spüren ist die unmittelbare Wahrnehmung des Körpers im Hier und Jetzt. Es umfasst Empfindungen wie Wärme, Kälte, Druck, Leichtigkeit, Vibration oder Enge. Diese Wahrnehmungen sind roh, direkt und noch frei von Interpretation.

Im Gegensatz zum Fühlen bewegt sich das Spüren nicht auf der Ebene der Emotion, sondern auf der Ebene der Sinneserfahrung. Es ist das, was der Körper im Moment mitteilt, ohne dass der Geist sofort eine Geschichte daraus macht. Im Shaiva Tantra wird das Spüren als Rückkehr in den Körper-Tempel verstanden – als unmittelbare Erfahrung des Göttlichen im physischen Dasein.

Wie Fühlen und Spüren zusammenwirken

Fühlen und Spüren sind zwei verschiedene Türen, die oft ineinander übergehen. Häufig entsteht ein Gefühl erst aus einer Empfindung: Ein Druck in der Brust wird als Angst gedeutet, eine Weite im Bauch als Freude, ein Kribbeln in der Haut als Sehnsucht.

Man könnte sagen: Spüren ist der Rohstoff, Fühlen die Interpretation. Das körperliche Signal ist zunächst neutral, erst durch unsere geistige Einordnung wird daraus ein Gefühl. Dieser Prozess geschieht meist unbewusst, doch im tantrischen Alltag wird er zu einer Übung in Bewusstheit.

Wer den Übergang von Spüren zu Fühlen erkennt, gewinnt Klarheit. Nicht jedes Ziehen, Pochen oder Pulsieren im Körper muss automatisch eine Emotion nach sich ziehen. Und nicht jedes Gefühl ist „objektive Realität“, sondern häufig eine Deutung des Körpers. Dieses Bewusstsein öffnet Raum: Raum, um innezuhalten, Raum, um frei zu wählen, Raum, um tiefer zu verstehen.

Warum dieser Unterschied mein Leben verändert hat

Früher war mir nicht klar, wie oft ich „fühlen“ sagte, wenn ich eigentlich „spüren“ meinte – und umgekehrt. Dieses kleine Missverständnis führte zu Verwirrung in Beziehungen und in mir selbst.

Heute weiß ich:
Fühlen verbindet mich mit meinen Emotionen.
Spüren verankert mich im Körper.

Beides gehört zu mir: Gefühle und Körperempfindungen. Wenn ich sie durcheinanderbringe, verliere ich die Klarheit. Bleibe ich nur in meinen Gefühlen, verliere ich manchmal den Halt. Beschränke ich mich nur auf das Körperliche, fehlt mir die innere Dimension. Der tantrische Weg lädt mich ein, beide Ebenen bewusst auseinanderzuhalten – und dadurch inneren Halt und Tiefe zugleich zu finden.

Zwei Paar Schuhe – und beide gehören dir

Heute sage ich manchmal zu Teilnehmenden: „Fühlen und Spüren sind wie zwei Paar Schuhe.“ Wenn du die falschen Schuhe für den falschen Weg trägst, wird es holprig. Doch wenn du lernst, bewusst zu wählen, gehst du leichter, sicherer, näher bei dir selbst.

Im Shaiva Tantra ist genau das der Weg: die feinen Unterschiede wahrzunehmen, die oft übersehen werden, und sie in dein Leben zu integrieren. So kommst du Schritt für Schritt tiefer in Kontakt mit dir – und mit dem Göttlichen in dir.

Probier es aus. Sag heute einmal bewusst: „Ich fühle …“ oder „Ich spüre …“ – und schau, was sich in deinem Erleben verändert.


Frau mit Hände auf Herz und Bauch

Eine kleine tantrische Praxis für dich

Vielleicht möchtest du ausprobieren, was mir so sehr geholfen hat:

  1. Setz dich in Ruhe hin. Schließe die Augen.
  2. Lege eine Hand auf dein Herz und frage dich: „Was fühle ich gerade?“ Vielleicht Freude, vielleicht Angst, vielleicht Stille. Nimm es einfach wahr.
  3. Lege die andere Hand auf deinen Bauch und frage dich: „Was spüre ich gerade?“ Vielleicht Wärme, Kälte, Spannung oder ein sanftes Pulsieren.
  4. Bleibe einige Atemzüge bei diesem Unterschied.

Als ich diese Übung zum ersten Mal machte, war ich überrascht, wie klar plötzlich alles wurde. Gefühle und Empfindungen, beide wichtig – und beide nicht dasselbe.


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